Autismus und ADHS werden häufig als Kinder- und Jugendthemen betrachtet, doch viele Betroffene erreichen das Erwachsenenalter, ohne jemals eine Diagnose erhalten zu haben. Dabei prägen beide neurobiologischen Entwicklungsvarianten das Denken, Fühlen und Handeln ein Leben lang. Eine verspätete oder fehlende Diagnose kann erhebliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis, die psychische Gesundheit und die Lebensqualität haben.
Wenn Kindheitsmuster im Erwachsenenleben weiterwirken
Viele Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) blicken auf eine Kindheit zurück, in der sie „einfach anders“ waren. Häufig wurden sie als verträumt, chaotisch, still oder sozial unbeholfen wahrgenommen, ohne dass eine tiefergehende Erklärung gesucht wurde. Erst im Erwachsenenalter, oft durch den Austausch mit anderen oder durch eigene Recherchen, erkennen sie Muster, die auf Autismus oder ADHS hindeuten.
Besonders Frauen und Menschen mit hoher Anpassungsfähigkeit werden häufig übersehen. Sie entwickeln Strategien, um Auffälligkeiten zu kompensieren, zum Beispiel durch übermäßige Selbstkontrolle, Perfektionismus oder soziale Anpassung. Diese dauerhafte Selbstregulation ist jedoch kräftezehrend und führt nicht selten zu Erschöpfung oder Burnout.
Herausforderungen im Alltag und Berufsleben
Erwachsene mit Autismus oder ADHS erleben ihren Alltag häufig als anstrengender als neurotypische Menschen. Strukturen, soziale Dynamiken und Reizüberflutung im Arbeitsleben können schnell zur Überforderung führen. Autistische Menschen haben oft Schwierigkeiten mit unausgesprochenen sozialen Regeln, während ADHS-Betroffene mit Konzentrationsproblemen, Impulsivität und Organisationsschwierigkeiten kämpfen.
Diese Herausforderungen sind jedoch keine Zeichen von Unfähigkeit, sondern Ausdruck einer anderen Art, Informationen zu verarbeiten. Mit passender Unterstützung, etwa durch Coaching, Ergotherapie oder angepasste Arbeitsplatzstrukturen, können Betroffene ihre Stärken gezielt einsetzen. Viele von ihnen sind kreativ, detailorientiert, empathisch und außergewöhnlich lösungsorientiert, wenn sie in einem passenden Umfeld arbeiten.
Warum Diagnosen im Erwachsenenalter so wichtig sind
Eine späte Diagnose kann für viele Erwachsene eine enorme Entlastung bedeuten. Endlich erhalten sie eine Erklärung für jahrelange Selbstzweifel und Missverständnisse im sozialen oder beruflichen Kontext. Gleichzeitig eröffnet die Diagnose Zugang zu passenden Therapien, Medikamenten und Unterstützungsangeboten.
Fachportale wie das Deutsche Ärzteblatt weisen darauf hin, dass die Zahl der Erwachsenen, die eine ADHS- oder Autismus-Diagnose erhalten, in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Dies zeigt nicht nur ein wachsendes Bewusstsein, sondern auch den Bedarf an spezialisierten Diagnostikstellen und Therapieangeboten für Erwachsene.
Wege zu mehr Verständnis und Akzeptanz
Gesellschaftlich ist das Verständnis für neurodivergente Menschen noch ausbaufähig. Während Themen wie Depression oder Angststörungen mittlerweile mehr Beachtung finden, wird Autismus und ADHS im Erwachsenenalter noch immer unterschätzt. Aufklärung, Offenheit und frühzeitige Unterstützung sind entscheidend, um Stigmatisierung abzubauen.
Betroffene profitieren von einem Umfeld, das Unterschiede akzeptiert und individuelle Stärken fördert. Arbeitgeber, Familie und Freunde können einen großen Beitrag leisten, indem sie Verständnis zeigen und Raum für Bedürfnisse schaffen. Denn Autismus und ADHS sind keine Schwächen: sie sind Teil einer vielfältigen menschlichen Wahrnehmung, die unsere Gesellschaft bereichert.
